Auf Einladung des Creative Europe Desk München hielt der dänische Drehbuchautor & Showrunner Jeppe Gjervig Gram auf dem Filmfest München eine Masterclass über Showrunning in Europa. Dabei gab er Einblicke in seine Mitarbeit an der Serie BORGEN, für die er mit einem BAFTA und einem Peabody Award ausgezeichnet wurde, sowie in seine Serie FOLLOW THE MONEY, welche aktuell beide auf Netflix abrufbar sind. Nach der Masterclass haben wir mit dem bekennenden Geschichts- und Kunstfan in der Nähe des Kunstareals über München, das Erzählen für ein internationales Publikum, die Verantwortung des Showrunners und seine Schreibroutinen gesprochen.
Creative Europe Desk München: Vor etwa 20 Jahren waren Sie das letzte Mal zu Besuch in München – wie fühlt es sich an, heute wieder in der Stadt zu sein?
Jeppe Gjervig Gram: Definitiv wärmer! (lacht) Damals arbeitete ich im Einkauf eines Senders, TV 2, und kam mit meiner Vorgesetzten. Ich sichtete damals Fernsehserien für sie, um zu entscheiden, welche eingekauft werden könnten. Wir wollten immer ein wenig deutsche Serien einkaufen, auch wenn es damals nicht so viele gute gab und sie nicht so gut beim dänischen Publikum funktionierten. Aber: wir wollten wirklich etwas finden, um nicht nur amerikanischen Content im Programm zu haben. Das war der Grund für unsere Reise. Heute bin ich in einem anderen Teil Münchens, kann also nicht so richtig vergleichen. Doch wenn ich das nächste Mal die Stadt besuche, möchte ich unbedingt die Museen erkunden!
Nicht immer funktionieren Serien also auch in einem ausländischen Markt. Nehmen wir jedoch einmal BORGEN, THE KILLING oder THE BRIDGE: all das sind dänische Serien, für ein dänisches Publikum gedacht, zugleich aber haben sie weltweit Zuschauer gewonnen. Wie kreiert man als europäischer Showrunner eine Serie, die auch zu Menschen in anderen Ländern spricht; wie geht das: international erzählen?
Ich glaube sehr an das Prinzip „local for global“, auch wenn es etwas aus der Mode gekommen ist durch die Streamer. Man hört nun häufig das Schlagwort „local for local“, was ich persönlich für etwas engstirnig halte. Andererseits wurde BORGEN auf eine Art auch als „local for local“ produziert. Ich erinnere mich, dass wir nie an eine internationale Auswertung geglaubt haben! Immer wenn wir (beim dänischen Rundfunk DR, A.d.R.) eine Serie machten, dann ausschließlich für das dänische Publikum. Doch wir wussten, dass wir ein sehr großes dänisches Publikum erreichen mussten. Als ich damals bei DR anfing, hatte der Sender schon einige sehr erfolgreiche Serien produziert und war eine breite Zuschauerschaft gewohnt. Selbst in meinem allerersten DR-Vertrag als Episode Writer bei der Serie Summer war vermerkt: „Jeppe Gjervig Gram schreibt eine TV-Serie mit mindestens einer Million Zuschauern.“ Und das bei damals 5,5 Millionen Einwohnern in Dänemark! Sie hätten mich feuern können, wenn wir unter einer Million geblieben wären. (lacht) Es waren kommerzielle Serien. Auch BORGEN war als kommerzielle Serie gedacht, aber eben nicht als „internationale“ Serie. Dass sie als solche funktionierte, realisierten wir erst, nachdem sie fertig produziert war.
Wie kam das?
Kurz vor der Premiere von BORGEN reiste der damalige Head of Drama von DR, Ingolf Gabold, mit mir zu einem französischen Filmfestival und zeigte ein paar Episoden der Serie. Und die Leute mochten es wirklich sehr. Wir waren schon froh gewesen, dass die Leute es verstanden, und Ingolf war ziemlich überrascht. Das sei doch gar keine Krimiserie, hier gehe es doch um dänische Politik. Im Taxi meinte ich zu Ingolf: vielleicht ist uns da etwas gelungen. Vielleicht können wir die Serie bei den großen Wettbewerben, vielleicht bei den Emmys einreichen. Ich erinnere mich ganz genau, wie er lachte und sagte: „Nein, Jeppe… diese Serie wird nicht international. Sie wird in Skandinavien bleiben. Und das ist auch in Ordnung.“ Kurz darauf wurde es ein großer internationaler Hit, in England, und so weiter. Und ich glaube, er hat sich später an unser Gespräch erinnert (lacht), denn er sagte zu mir: er hätte wirklich, wirklich nie gedacht, dass die Serie reisen würde.
Sie hatten da etwas im Gefühl.
Es war einfach wegen der Reaktion des französischen Publikums. Ich dachte: da passiert etwas, das nicht „nur local“ ist. Und dann wurde es „local for global“. Aber DR änderte seine Attitüde nicht. Der Sender sagte immer: wir versuchen zunächst, eine tolle Geschichte für die Dänen zu erzählen. Und wenn es eine tolle Geschichte für die Dänen ist, dann ist es vielleicht auch eine tolle Geschichte für den Rest der Welt.
In der dritten Staffel von BORGEN haben wir den Love Interest der Hauptfigur Birgitte Nyborg eingeführt, der Engländer ist. Und ich wurde von so vielen englischen Zuschauern angesprochen, die sagten: „Oh, ihr habt das nur eingebaut, weil es im Vereinigten Königreich so viele Fans gibt!“ Und das stimmte nicht. Der Grund lag in der Figur Birgitte Nyborg: sie war die Premierministerin von Dänemark gewesen. Sie wollte eine normale Beziehung führen und da ergab es Sinn, jemanden aus dem Ausland zu daten. Denn andernfalls hätte es merkwürdig sein können, mit der „dänischen Premierministerin“ eine Beziehung anzufangen. Das war der Grund, weshalb wir diese Figur entwickelt haben. Aber wir taten nie bewusst etwas, um „global“ zu sein.
Denn nicht jede internationale Geschichte ist organisch. Macht man es allerdings wie bei THE BRIDGE, eine Serie, die halb schwedisch, halb dänisch ist – jemand findet eine Leiche, die genau auf der Grenze liegt: das ergibt eine Menge Sinn. Dann ist es organisch.
Dann kommt die Notwendigkeit aus der Story.
Exakt. Aber wenn es zu einem „Smart Financing Deal“ wird, dann ist es vielleicht in manchen Fällen besser (für die Serie), mit weniger Geld zu arbeiten.
Sie kennen die verschiedenen Positionen im Writer’s Room: Nach der Filmhochschule haben Sie als Episode Writer gearbeitet, waren dann im Team von BORGEN und wurden später auch Showrunner Ihrer eigenen Serie FOLLOW THE MONEY. Wie lenkt man die Kreativität anderer Leute zu einem Ergebnis, das sich anfühlt, als käme es aus einem Gehirn? Könnten Sie etwas über den Workflow des „Creative Leadership“ verraten?
Das ist einigermaßen komplex. (lacht) Aber das ist der Job des Showrunners. Es geht darum, die Person zu sein, die die klare Vision davon hat, was diese Serie ist – und, vielleicht noch wichtiger, was sie nicht ist. Damit du diese Vision verteidigen und sie deinen Mitstreitern kommunizieren kannst. Eine TV-Serie zu machen – auch wenn man die von manchen ungeliebte Bezeichnung „Showrunner“ benutzt – ist immer Teamarbeit. Viele sind beteiligt. Manchmal stelle ich mir vor, dass TV-Serien zu machen wie der Bau einer Kathedrale im Mittelalter ist. Du arbeitest mit so vielen verschiedenen Steinmetzen, Bildhauern, Schreinern und so weiter zusammen. Es konnte anderthalb Jahrhunderte dauern, also brauchtest du eine sehr klare Vision. Alle individuellen Künstler mit einer Stimme sprechen zu lassen ist glaube ich die größte Herausforderung für einen Showrunner. Und das ist mein Job. (lacht) Dafür muss ich eine genaue Vorstellung davon haben, wie jedes Gewerk arbeitet. Ich muss wissen, wie ich mit einem Autoren kommuniziere, mit der Regie, mit den Editoren und den Produzenten und so weiter.
Haben Sie als Autor und Showrunner eine feste Schreibroutine?
Früher schrieb ich von zehn Uhr morgens bis zehn Uhr abends, sechs Tage die Woche. Dann wurde ich Vater. (lacht) Jetzt habe ich normale Tage.
Was ist ein normaler Tag?
Ich bringe mein Kind um 9 Uhr in den Kindergarten, um 9:30 Uhr bin ich im Büro und schreibe ungefähr bis 16:30 Uhr. Ich muss immer beschäftigt bleiben, damit diese Stunden konstruktiv genutzt werden. Wenn ich an den Schreibtisch komme, erliege ich häufig der Versuchung zuerst meine E-Mails zu checken und Leuten zu antworten, die alle möglichen Fragen haben. Aber als Autor muss ich in einen Schreib-Flow kommen, und so habe ich einen Weg gefunden, mich selbst auszutricksen: ich beginne meinen Tag in einem Café, wo ich bewusst keine Mails checke, sondern meine Kopfhörer mit einem Soundtrack aufsetze und schon einmal anfange, etwas aufzuschreiben. Wenn ich dann an den Schreibtisch komme, bin ich bereits im Flow. Bin ich allerdings sehr beschäftigt und muss ich pro Tag mehrere Seiten Text abliefern, dann gehe ich gleich ins Büro und zwinge mich in den Flow. Das funktioniert auch, ist aber ein bisschen schwieriger. Aber all die Routinen, die ich eben beschrieben habe, sind zurzeit möglich, weil ich mit meinen Serien im Entwicklungsstadium bin. Sobald wir in die Produktion starten, wird die Sache anders aussehen – es wird stressiger, die Tage werden länger und komplexer.
Und ist KI für Sie ein Tool, das Ihnen hilft im Schreibprozess?
Momentan schreibe ich auf Englisch und es hilft mir manchmal, wenn ich ein bestimmtes Wort suche, das mir auf der Zunge liegt aber auf das ich gerade nicht komme – dann ist es einfacher eine KI zu fragen als Google. Dann kann ich mein Problem beschrieben und bekomme viele Ergebnisse.
Ich denke sogar, es ist ziemlich wichtig für einen Autoren, damit zu beginnen die KI als Werkzeug zu nutzen. Ich glaube wirklich nicht, dass KI meine Arbeit übernehmen kann, denn die Leute wünschen sich eine menschliche Stimme hinter der Kunst, die sie sich anschauen. Ich vermute, dass KI helfen könnte oder wird, meine Arbeitstage effizienter zu gestalten. Und wenn ich mich nicht auf sie einlasse, werde ich der langsamste „writer on the block“ sein und das möchte ich nicht. Ich nutze die KI als Tool und stehe ihr nicht furchtbar ängstlich gegenüber, bin aber neugierig zu sehen, wo sie uns noch hinführt.
Sie sind Autor, aber auch der Head of Programme des Creative Europe MEDIA-geförderten European Showrunner Programme. Haben Sie in den vier Jahren, die das Programm bereits besteht, festgestellt, ob die europäischen Autor:innen aus allen Ecken des Kontintents ähnliche Themen mitbringen?
Ja, und das ist ganz interessant. Unsere Teilnehmer kommen aus knapp 20 europäischen Ländern, sowohl high- als auch low capacity countries, nie mehr als zwei aus demselben Land: es ist immer eine sehr diverse Gruppe. Manchmal könnte man denken, dass Leute aus z.B. Kroatien in einer anderen Lebensrealität leben als in Dänemark, oder Deutschland oder Frankreich usw. Auf eine Art zwar schon, aber es ist dennoch verblüffend zu sehen, wie viele Ähnlichkeiten es in ihrer Arbeit gibt – sogar mehr als Unterschiede, würde ich sagen. (lacht) Eine Gemeinsamkeit ist auch, dass viele in einer Branche arbeiten, die nicht ausgerüstet ist um mit Showrunnern zu arbeiten, auch die deutschen Autoren, mit denen ich spreche.
Es gibt zwar einige tolle Showrunner in Deutschland, und es sieht danach aus, als würden es hoffentlich noch mehr, aber: es gibt auch eine Menge Widerstand in der Branche gegenüber der Autoren-geführten TV-Serie. Selbst, wenn wir nicht das Wort „Showrunning“ verwenden, das manche Leute verstimmt – wir können es auch „Writer Created TV Series“ nennen – aber die Probleme sind ähnlich, in Kroatien, in Deutschland und vielen anderen Orten. Zum Glück nicht so sehr in Dänemark. Weil wir eine starke Tradition haben, die seit langer Zeit funktioniert, und wir so viele Erfolge in Dänemark hatten, sodass die Leute nicht infrage stellen, dass dies das Modell ist, in dem wir arbeiten.
Um zur ersten Frage über München zurückzukommen: was verbinden Sie als Serienmacher mit Deutschland? Gibt es Geschichten von hier, die Sie gerne erzählen würden?
Ich arbeite gerade an einer Koproduktion mit einer deutschen Firma, Dark Ways, über die ich hier aber noch nicht viel verraten kann…
Vielen Dank für das Gespräch und noch einen inspirierenden Tag in München!
Interview und Übertragung aus dem Englischen:
Julien Hebenstreit, Creative Europe Desk München
Permalink: https://creative-europe-desk.de/artikel/news/tv-serien-zu-machen-ist-wie-der-bau-einer-kathedrale