Durch die Pandemie sind so manche Personalien, die für einen Neuanfang stehen und eng mit der Berlinale verbunden sind oder waren, zu kurz gekommen: Neben Dennis Ruh, seit 2020 Leiter des European Film Market (EFM), gehört dazu sicher auch Matthijs Wouter Knol. Der gebürtige Niederländer ist seit 2021 CEO der European Film Academy – und war zuvor für den EFM verantwortlich. Im Interview stellt Matthijs Wouter Knol seine Ideen und Visionen für die European Film Academy und ihre zahlreichen Aktivitäten vor, zu denen auch die jährlichen European Film Awards gehören.
Creative Europe Desks: Quo Vadis, Europa? Wo steht der europäische Film heute – und wo sehen Sie seine Zukunft?
Matthijs Wouter Knol: Schaut man auf das zweite Jahr der Pandemie, hatten wir im Jahr 2021 wahnsinnig viele spannende und vielfältige Filme, die wir unseren Mitgliedern als Academy „zur Verfügung“ stellen konnten. Das hat sich auch in den Nominierungen widergespiegelt. Es war nicht nur erstaunlich, sondern auch herzerwärmend zu sehen, dass trotz schwieriger Bedingungen immer noch gute Filme gemacht werden. Unter der Oberfläche aber wird uns immer mehr bewusst, dass die Sichtbarkeit des europäischen Kinos schwindet in einer Zeit, in der das Verhalten des Publikums sich zunehmend auf digitales "Schauen" verlagert, natürlich auch weil viele Kinos zeitweise geschlossen waren. Aber: Auf den digitalen Plattformen ist die Sichtbarkeit des europäischen Kinos nicht gestiegen. In den Nachrichten konnte man immer wieder hören, dass es den europäischen Kinos in der Pandemie relativ gut ging, aber das spiegelt die aktuelle Lage der Kinos nicht wirklich. Zusammenfassend kann man sagen: Es werden viele spannende Projekte in Europa gemacht, sowohl von etablierten als auch aufstrebenden Künstler:innen. Aber die Sichtbarkeit des europäischen Films ist in den 34 Jahren seit Gründung der European Film Academy, nicht deutlich besser geworden. Der Grund, eine europäische Filmakademie zu gründen war u.a., den europäischen Film zu schützen und hervorzuheben. Das ist nach wie vor sehr notwendig – und in Zeiten wie diesen noch notwendiger. Hier sehe ich den Bedarf, die Arbeit der Academy eventuell zu ändern und anzupassen an die Zeit, in der wir gerade leben.
Der europäische Film und das junge und ältere Publikum: Was wollen Sie in der European Film Academy tun, um diese Liaison für die Zukunft zu stärken?
Die Academy hat die Aufgabe, den europäischen Film zu feiern bzw. sichtbar zu machen. Das hat sich bisher konzentriert auf Filmschaffende und die Menschen, die das Kinos eh schon gut kennen. Was wir ändern werden ist, dass wir viel breiter zielen wollen, uns auf ein junges Publikum fokussieren wollen, viel mehr auch die Kinobildung zu unseren Aufgaben rechnen werden. Ich glaube, dadurch, dass man europaweit ein junges Publikum erreicht, man auch dazu beiträgt, dass die jungen Menschen die europäische Kinokultur kennen und lieben lernen. Damit baut man auch eine Zukunft. Und ich glaube, dass die European Film Academy eine sehr, sehr große Aufgabe hat, und deswegen beim Kino für Kinder und Jugendliche im Alter von 12 bis 19 Jahren viel gemacht werden kann. Ich bin nämlich auch überzeugt, dass, wenn man diese Gruppe erreicht, man dadurch auch Eltern, Geschwister, Freunde, Schulfreunde oder Großeltern indirekt auch mit erreichen und begeistern kann. Das ist für uns auf jeden Fall der Hauptfokus für die nächsten Jahre.
Vom Markt zur Auswertung: Welche Erfahrungen aus der Arbeit für den EFM helfen Ihnen heute als CEO der European Film Academy?
Ich habe das große Glück gehabt, innerhalb von 20 Jahren in drei Bereichen tätig zu sein. Erst habe ich als Produzent gearbeitet, danach habe bei Berlinale Talents mit aufstrebenden Filmemachern gelernt, wie schwierig es eigentlich als neues Talent ist, in die Industrie reinzukommen und welche Hilfe man dafür braucht. Und bei meiner anschließenden Arbeit für den EFM konnte ich sehen, wie schwer sich die Industrie tut, Veränderungen in die Wege zu leiten oder zu umarmen. Ich habe versucht, dort Impulse zu geben und neue Elemente in den Markt zu integrieren, mal mit mehr, mal mit weniger Erfolg. Der Schritt zur European Film Academy war für mich persönlich wie beruflich mein Bedürfnis, mich auf das Publikum zu fokussieren. Ich habe gesehen, dass das Schlagen einer Brücke zwischen dem europäischen Film und einem breiten Publikum eigentlich vernachlässigt worden ist. Nach meinem Gefühl kann man hier viel mehr machen. Und wenn es irgendwo richtig gemacht werden kann, dann bei der European Film Academy. Wir machen in Europa viele tolle Filme, die aber von sehr wenig Leuten gekannt und gesehen werden. Das zu ändern, ist mir sehr wichtig. In den nächsten 20 Jahren meiner Karriere würde ich mich gerne damit beschäftigen, auch wenn es noch ein paar Jahre dauern mag, bevor man die Ergebnisse sehen wird. Und: Solche Veränderungen kann man mit der Academy viel besser und effektiver erreichen als auf einem Markt wie dem EFM, der sehr interessant und wichtig ist, sich aber auf eine sehr begrenzte Gruppe in der Industrie fokussiert.
Welche Aktivitäten werden Sie fortsetzen? Wo wollen Sie Neues ausprobieren – und warum?
Natürlich sind das zuerst die European Film Awards, die seit den Anfängen der Akademie sehr wichtig sind, die aber in ihrer Ausrichtung und Tonalität noch mal deutlich verändert und breiter wahrgenommen werden sollen. Es gibt tolle Formate innerhalb der European Film Academy wie z.B. „Sunday in the Country“, das einmal im Jahr in einem oder mehreren Mitgliedsländern stattfindet und bei dem junge Filmemacher:innen mit Mitgliedern, aber auch Nicht-Mitgliedern zusammengebracht werden. Das möchte ich wahnsinnig gerne fortsetzen, aber vielleicht mit einem Fokus auf diversere Teilnehmergruppen. Ich glaube, neue Projekte, die wir ab 2022 beginnen werden, haben mit den zwei schon genannten Beispielen zu tun. Zum einen werden wir den European Film Awards einen Kontext geben durch einen „Monat des europäischen Films“, der einen Monat vor den Awards anfängt und mit den European Film Awards quasi als Höhepunkt auch endet. D.h., man feiert einen Monat lang Filme in ganz viel Städten und Kinos Europas und erhöht damit auch die Sichtbarkeit der nominierten oder auch nicht-nominierten europäischen Filme – und lässt dadurch auch das Publikum in ganz Europa an dieser Feier des Films teilnehmen, indem diese in Kino gehen und die Filme sehen können.
Wie können die European Film Awards noch größere Bekanntheit erlangen bei einem breiten Publikum?
Wir wollen die European Film Awards auf jeden Fall breiter ausrichten und dann eben nicht nur Arthouse-Kinos einbinden, sondern auch kommerzielle Kinos oder Streaming-Plattformen. Ich habe überhaupt kein Problem damit, eine Streaming-Plattform anzusprechen und zu sagen: Im November wollen wir das europäische Kino feiern. Was könnt ihr beitragen, damit dieses sichtbarer wird, und was können wir zusammen machen? 2021 haben wir das schon klein begonnen mit der Arthouse-orientierten Plattform MUBI. Das würde ich 2022 gerne erweitern. Und ich glaube, dass wir dann auch mit den TV-Sendern sprechen – und da nicht nur mit den öffentlich-rechtlichen, sondern auch anderen Sendern – und schauen, was wir gemeinsam machen können. Es gibt hier bereits viel Interesse und da brauchen wir, so glaube ich, nur eine gut gemachte und schlaue Synchronisierung.
Welches Potential sehen Sie in einem Monat des Europäischen Films?
2021 haben wir eine Pilotveranstaltung in Berlin gemacht. Mein Wunsch wäre, diese Idee 2022 und in den folgenden Jahren zu starten, sagen wir mit zehn Städten in Europa. Das Ziel ist, dass wir in fünf Jahren in jedem der 52 europäischen Länder, mit denen wir zusammenarbeiten, einen Monat des europäischen Films haben.
Wären das Teilnehmer in einer Mischung aus kleinen oder großen Ländern wie Frankreich?
Ja, es soll absolut eine Mischung aus kleinen und größeren Ländern werden. Frankreich sollte auf jeden Fall mit an Bord sein, aber es ist noch nicht so weit. Wir fangen im Januar 2022 erst an, Partner zu suchen. Aber ich kann schon jetzt sagen, dass die Pilotveranstaltung das Interesse von potenziellen Partnern aus 20 Ländern geweckt hat. So gab es z.B. schon Signale aus dem Kosovo oder Moldawien, aber auch aus Spanien, Frankreich, Schweden und Norwegen.
Wie intensiv ist der Austausch unter den Mitgliedern? Wie sehr bringen sie Ideen in die Akademie-Arbeit ein?
Ich kann es mir gut vorstellen und wünsche es mir auch, dass die Akademie ihre Mitglieder mehr einbindet. Bisher ist dies relativ beschränkt. Mitglieder können natürlich Themen für die Agenda des Vorstandes vorschlagen. Und wir binden sie ein, wenn es um die Kommissionen für die Vorauswahl der Filme geht. Was ich mir vorstellen kann: Die European Film Academy hat eine sehr große, nicht sehr ausdifferenzierte Gruppe von Mitgliedern. Ich glaube, man könnte als Akademie aber viel mehr die einzelnen Gewerke und unterschiedlichen Erfahrungen zur Geltung bringen und wichtiger machen, auch für die Mitglieder-Community. Wenn man also z.B. den Schauspieler*innen eine extra Möglichkeit geben würde, sich zu verknüpfen, beispielsweise mit Agent*innen. Hier könnte man als Filmakademie mehr machen, um die Mitgliedschaft für Einzelne interessanter zu machen. Den Ausbau der Mitgliedschaft – nicht nur das Vergrößern der Mitgliedschaft, was wir ebenfalls in den nächsten Jahren vorhaben – wollen wir gerne zusammen mit den Mitgliedern diskutieren. Wir wollen hier inhaltlich mehr anbieten. Eine Sache wollen wir auf keinen Fall: Wir wollen nicht sagen, man ist z.B. Kameramann oder -frau und bleibt deshalb in der Kamera-Ecke. Viele Mitglieder würden es sicher schätzen, wenn ihnen z.B. als Kameramann oder -frau oder Schauspieler*in mehr auf ihre jeweiligen Interessen zugespitzte Informationen und Möglichkeiten angeboten würden.
Was kann die European Film Academy tun, um Kinder und Jugendliche, aufgewachsen mit Handy, Gaming, Streaming und Social Media, neugierig zu machen für den Europäischen Film?
Es gibt sehr konkrete Pläne: Wir entwickeln gerade einen European Film Club für die Zielgruppe der 12- bis 19-Jährigen. Der Film Club würde das ganze Jahr hindurch digital Filme anbieten. Man sich dort als Gruppe anmelden oder eine Gruppe bilden, um die Filme zu sehen. Die Film Clubs setzen sich wirklich nur aus Jugendlichen zusammen. Es sind keine Erwachsenen dabei, die mitreden oder erklären, warum die Filme so toll sind. Das sollen die Jugendlichen selber entdecken. Die Filme sind von uns kuratiert. Das Projekt wird gemeinsam mit einem Youth Council, bestehend aus 15 europäischen Jugendlichen entwickelt. Sie beraten uns und treffen gemeinsam mit uns die Entscheidungen, wie dieser Film Club, d.h. der große Film Club und auch die einzelnen Film Clubs aussehen sollten. Wir wollen 2023 starten und 2022 ein Beta-Version aufbauen und viel testen. Die Erfahrungen, die wir mit dem Young Audience Award (YAA) in den letzten zehn Jahren als Akademie gemacht haben, haben uns sehr geholfen, denn darüber ist ein Netzwerk von mehreren Tausend entstanden. Der YAA fokussiert sich ja auf 12- bis 14-Jährige, wobei die nun etwas älteren Jugendlichen dadurch immer noch mit dabei sind.
Welche konkreten Pläne haben Sie für den Young Audience Award?
Der YAA wird weiterhin stattfinden, wird aber auch ein Teil des European Film Clubs sein. D.h., die jüngsten Mitglieder des Clubs können weiter jährlich über den Preis für einen der drei nominierten Filme entscheiden. Die Nominierungen werden aber von den älteren Kindern festgelegt. Und was sich ändern wird: Der YAA wird ab 2022 nicht mehr im Frühjahr stattfinden, sondern im November während des Monats des europäischen Films. Die Jugendlichen werden am Anfang des Monats des europäischen Films die erste Stimme haben, ihren besten Film auswählen und somit auch den Monat eröffnen und ihre Begeisterung so mit in diesen Monat einbringen. D.h., der YAA, der ja eine offizielle Kategorie der European Film Awards ist, rückt näher heran an die eigentlichen Awards im Dezember. Die Stimme der Jugendlichen verbindet sich so mit der Arbeit, die wir sowieso am Jahresende machen werden, Dadurch wollen wir die Attraktivität und Sichtbarkeit des Preises sowie dieser jungen Zielgruppe erhöhen.
Wie lässt sich so ein Film Club noch mit einem realen Besuch im Kino verbinden?
Wir wollen im Film Club eine kleinere Auswahl von Filmen über das Jahr hin zur Verfügung stellen, sagen wir rund 25 Filme. Und es sollen nicht nur die neuesten Filme, sondern auch ein paar ältere dabei sein und sogar Klassiker. Das ist übrigens auch ein Wunsch der Jugendlichen selber, die auch nicht nur die neuesten Filme sehen wollen, sondern vor allem gute Filme. Wir sehen hier auch eine Chance, das Filmerbe für die Jugendlichen mehr einzubringen. Was nun den Kinobesuch betrifft: Das bietet uns auch die Möglichkeit zu sagen, im Film Club findet ihr gerade thematisch spannende oder ältere, gute Filme von Regisseur*innen, deren neueste Filme aktuell im Kino laufen. Wollt ihr als Film Club nicht auch Screenings im Kino organisieren? So könnte man auch die Hemmschwelle für einen Kinobesuch verkleinern.
Wie sehen Sie die Streamer als Partner des Kinos, wo sie doch die Menschen, gerade in der Pandemie, weggeholt haben von den Kinos?
Es gibt durchaus ein zwiespältiges Verhältnis zwischen der Akademie und dem Thema Streaming-Plattformen. Auf der einen Seite zwingen die Plattformen zum Umdenken und zu einer Reaktion, da sie völlig neue Geschäftsmodelle in die Industrie bringen und dadurch das Sehverhalten des Publikums verändern. Nun kann man natürlich aufschreien und sagen „Das kann alles nicht so sein und so war es früher nicht und warum können die das so machen“, aber diese Phase ist inzwischen vorbei. Und man sieht natürlich auch, dass die Plattformen auf ihre Art und Weise Talente und Geschichten in einer neuen Bandbreite einbinden, was sehr notwendig und produktiv ist. Auf der anderen Seite ist es kompliziert, weil sie eben auch diktieren, wie das Geschäft gerade läuft, und dadurch die unabhängige Produktion in Europa direkt gefährden, weil sie letztendlich entscheiden, wer was macht und wer die Rechte hat. Eigentlich wird so die Position der unabhängigen Produzenten auf Dauer – und das sieht man auch jetzt schon nach ein, zwei Jahren – geschwächt. Da muss man schon ganz klar sagen: Schön, dass ihr da seid, aber es gibt hier bestimmte Regeln; schön, dass ihr da seid, aber wir sind hier nicht in Amerika; schön, dass ihr da seid, wir wollen gerne mit euch zusammenarbeiten, aber wir wollen auch unsere Positionen nicht schwächen lassen. Und es muss auf bestimmte Art und Weise auch so sein, dass die Plattformen dazu beitragen, dass das „Eco System“, das wir in Europa über viele Jahrzehnte aufgebaut haben und das es uns auch ermöglicht Filme zu machen, die sonst nicht entstehen könnten, nicht plötzlich zerstört wird. Und dass Produzent*innen, die sich jahrelang für dieses System eingesetzt haben und nun keine Möglichkeiten haben, zu überleben, das kann nicht sein und muss auch klar signalisiert und bekämpft werden. Ich habe aber auch in den letzten 13 Jahren, die ich in Berlin tätig bin, gesehen, wie wahnsinnig viel sich geändert hat, wenn es darum geht, wo man sich etwas ansieht, wer was finanziert usw. Diese Entwicklungen ändern sich ja nun von Jahr zu Jahr und auch die Hegemonie der Streaming-Plattformen und wie sie in der Produktion in Europa mitmischen, auch das wird sich weiter ändern. Irgendwann wird auch dort eine Obergrenze erreicht, wenn es um Qualität geht und darum, wer was zu sagen hat in der europäischen Filmindustrie.
Wie will die Akademie die Themen Nachhaltigkeit und Vielfalt sichtbarer machen?
Diversität sehe ich absolut als Teil von Nachhaltigkeit, auch wenn das in erste Linie oft als ökologische Frage, die ich hier auch so beantworten kann, verstanden wird: Als Akademie arbeiten wir viel in Berlin und sehr, sehr digital, auch mit unseren Mitgliedern, denen wir sehr viele Angebote in digitaler Form machen können. Ein Bereich, bei dem wir ökologisch wirklich weiterdenken müssen, sind die europäischen Filmpreise, die im Dezember verliehen werden. Bisher war es ja so, dass wir Menschen aus ganz Europa einladen, sich an einem Ort für maximal zwei Tage zu treffen und dort das europäische Kino zu feiern. Das ist eine sehr, sehr schöne Sache und ich wünschte mir, dass wir das ohne Problem weitermachen könnten. Aber die Realität macht natürlich klar, dass man für solche Events sehr viel generiert, was nicht nachhaltig ist, vom Reisen bis zum einmalig verwendeten Material für die Show, weil diese danach woanders stattfindet. Das sind natürlich Themen, mit denen wir uns aktiv auseinandersetzen. 2021 haben wir uns für die Awards für ein Bühnenbild entschieden, das aus nachhaltigen Materialien besteht und mehrmals verwendet werden kann, 2022 auch in Reykjavik und dann wieder in Berlin. Das ist ein Schritt. Und ich glaube, dadurch dass wir auch mit dem Monat des Europäischen Films, und damit 30 Tage vor dem European Film Award, das europäische Kino feiern wollen, das Erlebnis und die Präsenz des europäischen Kinos nicht nur auf einen Abend und eine Woche begrenzt ist, wir auch viel breiter und nachhaltiger, sagen wir in der Nähe der Menschen feiern werden. Das wird auch eine Akzentverschiebung sein, was dann wieder direkt zur Diversität führt als Teil der Nachhaltigkeit.
Ich glaube, die Mitgliedschaft in der Akademie kann widerspiegeln, wie sich Europa demographisch zusammensetzt. Ich bin jetzt noch nicht stolz darauf, wie sich Nachhaltigkeit in der Akademie widerspiegelt. Wir haben da noch eine Menge zu tun. Wir werden z.B. in den kommenden Jahren aktiv Mitglieder einladen. Wir wollen auch daran arbeiten, dass Menschen, die sich bisher von der Akademie nicht vertreten gefühlt haben, sich dort mehr zuhause fühlen werden. Das kann eine andere Zusammenstellung der Auswahlkommissionen sein. Und eine diverse Mitgliedschaft heißt dann vielleicht auch, dass die Vorstandsmitglieder nicht nur den weißen Mittelstand Europas abbilden. Last but not least, um zum Publikum zu gehen: Mit dem Monat des Europäischen Films oder dem European Film Club das ganze Publikum mit einzubinden, das wird auch die Rolle der Akademie stärken. Auch da sehe ich einen nachhaltigen Effekt, denn eine Akademie, die sich nur auf eine kleine Gruppe fixiert und das Kino einmal im Jahr feiert, das hat keine Zukunft.
Diese ganze Arbeit der European Film Academy und der Awards muss ja auch finanziert werden, was immer eine Herausforderung ist. Welche Bedeutung hat hierbei die Unterstützung der EU – und wie können mehr Gelder aus der Wirtschaft gefunden werden?
Die Unterstützung von Creative Europe MEDIA ist sehr entscheidend für die Arbeit, die wir machen, und war von Anfang sehr tatkräftig. Die Zusammenarbeit und Unterstützung von Creative Europe MEDIA, aber auch die Zusammenarbeit mit der Kommission und dem Europarlament, so wie beim LUX Audience Award, deren Nominierungen auch 2022 wieder im Rahmen der European Film Awards bekanntgegeben wurden, unterstreicht noch einmal die Arbeit der Akademie, aber auch die Arbeit an anderen Stellen in Europa und wie organisch die Dinge sich zusammenfügen. Das weiterhin zu tun ist auch das Bestreben der Akademie für die kommenden Jahre, nämlich das Publikum mehr auf den Reichtum des europäischen Films hinzuweisen. Natürlich ist die Unterstützung wichtig, die wir auf institutioneller Ebene erhalten, ob aus Europa oder aus einzelnen Ländern und insbesondere aus Deutschland. Ich sehe aber auch die absolute Notwendigkeit, dass Unterstützung auch aus anderen, größeren europäischen Ländern kommen sollte. Frankreich oder Italien, das in diesem Jahr wieder neu eingestiegen ist mit zusätzlicher Unterstützung, sind hier ganz klar sehr wichtig. Ich denke, wenn die Arbeit und der Fokus der European Film Academy sich ändert und eine Publikumseinbindung eine viel, viel größere Rolle spielt, dann gibt es auch Möglichkeiten, private Gelder oder kommerziellere Partner zu finden, ohne dabei den Kern der Akademie zu gefährden.
In welchen Filmregionen und Ländern sehen Sie Potentiale und neue Entwicklungen, sowohl künstlerisch als in Bezug auf die Produktion?
Es gibt in vielen Ländern Europas gerade absolut keinen Stillstand, wenn es um den Film geht. Das sieht man ja auch – wie am Angang gesagt – an der Vielfalt in der Vorauswahl, wo z.B. auch der Film „Hive“ aus dem Kosovo zu finden war. Es gibt traditionell und historisch viel Aufmerksamkeit für das westeuropäische Kino. Am 26. Dezember 2021 jährte sich zum 30. Mal die Auflösung der Sowjetunion. Und wir haben als Akademie noch mal verstärkt auf die ganzen tollen Filme der letzten 30 Jahre geschaut, die in den 29 Ländern, die zum ehemaligen Ostblock gehört haben - vom ehemaligen Jugoslawien bis zum Baltikum. Die sind an manchen Stellen doch vom Radar verschwunden, nicht weil man sie nicht mehr kennt, sondern weil sie, selbst bei jüngeren Werken, nicht mehr zu sehen sind, auch weil sie von den jeweiligen Ländern nicht konserviert wurden oder in Archiven gesammelt worden sind. Viele Filme sind verloren gegangen. Das hat mit Geld zu tun, aber auch mit politischen Prioritäten. Filme, die nicht unbedingt ein „tolles“ Bild des eigenen Landes zeigen, müssen dann nicht unbedingt weiter unterstützt werden. Ich glaube, wenn man über Teile Europas spricht, sollte die European Film Academy eine wichtige Rolle dabei spielen, so viele Länder Europas gleichberechtigt sichtbar zu machen. Und der doch sehr starke Fokus auf den französischen, englischen, spanischen oder italienischen Film ist natürlich sehr, sehr wichtig, aber mehr als die Hälfte der europäischen Länder, so würde ich sagen, wird dabei systematisch übersehen. Hier müssen wir etwas tun, damit nicht die Hälfte des Kinos von Europa einfach verschwindet.
Wie ist ihre Begeisterung für das europäische Kino entstanden. Was hat Sie geprägt?
Bei mir begann die Liebe zum Kino, sobald ich an die Uni ging. Ich stamme aus einem Haushalt, wo ich keine Filme sehen durfte, und so hatte, als ich dann erwachsen wurde, einen sehr großen Hunger nach Filmen. Erst mit 20 habe ich entdeckt, was Kino ist, was es auch persönlich für mich bedeutet und wie ich mich dazu verhalte. Auch meine eigene Identität habe ich sehr stark über das Kino entwickelt. Eigentlich bin ich ausgebildeter Historiker. Geschichte interessiert mich immer noch sehr, und sie passt gut in meine jetzige Arbeit. Dabei hat sich das Interesse an Geschichte und vor allen, was Geschichte und Film über das heute sagen, stark miteinander verbunden.
Ihr aktueller europäischer Lieblingsfilm?
Oh, da gibt es sehr viele. Das ist schwer, einen Favoriten zu nennen. Aber ich kann sagen, dass ich froh und sehr stolz bin, dass der Gewinnerfilm der European Film Awards, „Quo Vadis, Aida“ von Jasmila Žbanić, für sehr Vieles steht, was ich zuvor gesagt habe. Das ist ein Film, der in der jüngeren Geschichte Europas spielt und gleichzeitig sehr, sehr viel aussagt über das Europa von heute und wie mit Vorfällen aus der gegenwärtiger Geschichte Europas umgegangen oder nicht umgegangen wird. Deswegen bis ich sehr froh, dass dieser so aussagekräftige und künstlerisch starke Film auch ein Beispiel dafür ist, was das europäische Kino heute zu sagen hat. „Quo Vadis, Aida“ sagt tatsächlich viel über „Quo Vadis, Europa“.
2028 wird die European Film Academy 40 Jahre alt? Wo soll sie dann stehen?
Das war auch die erste Frage, die ich gestellt habe an meinem ersten Tag in der Akademie. Die Projekte, die ich oben beschrieben habe, nämlich eine stärkere Einbindung und eine deutlichere Sichtbarkeit des europäischen Kinos bei einem breiten europäischen Publikum, die Einbindung der jungen Generation von Europäer*innen, die sich mit europäischen Filmen bekannter und vertrauter machen kann, das ist absolut eine der Antworten.
Ein letzter Punkt, den ich eigentlich noch nicht wirklich erwähnt habe, der aber für mich eine große Rolle spielt, ist die aktive Einbindung der European Film Academy in alle Programme, die das europäische Filmerbe betreffen. Ich glaube daran, dass die Integration von Filmerbe und Klassikern, – und da rede ich von Filmen, die sowohl über 100 als auch nur fünf Jahre alt sind, – ein Publikum viel mehr erreichen kann als nur mit dem aktuellen Fokus der Kinos und Festivals auf die allerneuesten Filme. Das ist toll und weiterhin wichtig, aber ich glaube nicht, dass das große, breite Publikum hier immer mithalten kann oder sich dafür interessiert. Zusätzlich sollte man das Filmerbe aktiv zugänglicher machen und sichtbar in die Kinoarbeit integrieren. So könnte die Academy 2028 das Publikum nicht nur durch Kinovorführungen, sondern vielleicht durch das Verbinden von in der Filmgeschichte wichtigen Orten Europas aktiv einbinden. Konkretes Beispiel: In der Academy gibt es die Initiative „Treasures of European Film Culture“, für die bisher 13 besondere „Filmschauplätze“ in Europa ausgewählt wurden, was ich gerne in den kommenden Jahren steigern würde. Bis zum Jubiläum hätte ich gerne 40 Orte in Europa, oder am liebsten sogar einen Ort pro Land, bei dem man zweifellos sagen kann: Hier kann man das europäische Kino besuchen und anfassen. Ich rede z.B. vom Trevi-Brunnen in Rom oder der großen Freitreppe in Odessa, die durch Eisensteins „Panzerkreuzer Potemkin“ berühmt wurde.
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